Lebensbild (Predigt) von Andreas Symank zu Barnabas.
Sich ein Bild von Barnabas zu machen, ist nicht ganz einfach, und zwar deshalb, weil er in der Apostelgeschichte nicht nur einmal auftaucht, sondern wieder und wieder, und jedes Mal an Schlüsselstellen, an neuralgischen Punkten sozusagen. Es genügt also nicht, sich einen Filmausschnitt anzusehen, um diese Nebenrolle kennenzulernen; man muss sich eine ganze Reihe von Szenen zu Gemüte führen. Alles kriegen wir in so einer Predigt natürlich schon aus Zeitgründen nicht auf die Reihe; ich habe 5 Filmausschnitte ausgesucht, in denen Barnabas vorkommt und die wir uns jetzt nacheinander ansehen wollen.
Fünf Filmausschnitte
Erster Filmausschnitt: Spitznamen und Hilfsgelder
Zum ersten Mal stoßen wir in Apostelgeschichte 4 auf Barnabas. Am Schluss des Kapitels lesen wir folgendes:
Es gab in der Gemeinde von Jerusalem niemand, der Not leiden musste. Denn wenn die Bedürfnisse es erforderten, verkauften diejenigen, die ein Grundstück oder ein Haus besaßen, ihren Besitz und stellten den Erlös der Gemeinde zur Verfügung, indem sie das Geld vor den Aposteln niederlegten. Davon wurde dann jedem das zugeteilt, was er nötig hatte. Einer von denen, die den Bedürftigen in dieser Weise halfen, war Josef, ein Levit von Zypern, den die Apostel Barnabas nannten (Barnabas bedeutet: „der, der andere ermutigt“). Josef verkaufte ein Stück Land, das ihm gehörte, und stellte das Geld, das er dafür bekam, der Gemeinde zur Verfügung, indem er es vor den Aposteln niederlegte.
Was erfahren wir hier über Barnabas? Erstens: Er war ein Levit, also ein Ange-höriger des Priesterstammes. Zweitens: Er stammte aus Zypern. In Zypern gab es, wie der Historiker Josephus berichtet, eine große jüdische Gemeinschaft. Drittens: Er besaß ein Stück Land, kann also nicht ganz arm gewesen sein.
Und schließlich erfahren wir hier noch etwas; es ist das Auffälligste: Barnabas hieß eigentlich gar nicht Barnabas. Sein richtiger Name war Josef. Barnabas war so was wie ein Spitzname, den die Apostel ihm verpasst hatten. Aber dieser Spitzname war alles andere als spöttisch gemeint. Barnabas bedeutet: der „Mutmacher“. Damit wollten seine Mitchristen gewissermaßen beschreiben, was ihnen an diesem Mann besonders auffiel: Er war jemand, dem es gelang, andere zu ermutigen.
Vielleicht können wir ihn uns am besten dadurch vorstellen, dass wir überlegen, was er sicher nicht war. Er war kein bärbeißiger Griesgram, kein weinerlicher Sauertopf, kein trübsinniger Trauerkloß. Er ließ nicht gleich die Flügel hängen, wenn etwas nicht klappte, zweifelte nicht ständig an Gott und den Menschen, blickte nicht dauern wehmütig oder grüblerisch zurück, wie Pessimisten es tun. Er war nicht übellaunig, nicht verdrießlich, nicht missmutig, nicht verstimmt, nicht gereizt, nicht mürrisch. Stattdessen wird er eine tiefe Freude und Ruhe ausgestrahlt haben, eine fröhliche Festigkeit, eine natürliche Weisheit, etwas Hoffnungsvolles, nach vorne Gewandtes. Ich glaube, wer mit ihm zu tun hatte, war von ihm angezogen und fühlte sich in seiner Nähe wohl. Mit einem Wort: Von ihm ging etwas Mutmachendes aus. Der Übername passte so genau zum Charakter, dass Josef nur dieses erste Mal in der Apostelgeschichte bei seinem richtigen Namen genannt wird; von jetzt an heißt er immer „Barnabas“.
Es hat uns Auskunft über Herkunft und Namen und Charakter von Barnabas gegeben. Aber nicht nur das; er war zugleich auch die erste kleine Filmszene. Barnabas verkauft ein Stück Land, damit man den Erlös denen zur Verfügung stellen kann, die nichts besitzen und in Not sind. Ich finde, damit hat Barnabas seinem Übernamen alle Ehre gemacht. Das passt haargenau zu ihm. Indem er freiwillig auf seinen Besitz verzichtet, macht er denen Mut, die dringend materielle Hilfe brauchen. Und wohlgemerkt: Barnabas macht nicht nur schöne, ermutigende Worte; er greift den Armen ganz praktisch unter die Arme.
Zweiter Filmausschnitt: Misstrauen und Brückenbau
Spulen wir zur zweiten Szene unseres Films vor: Apostelgeschichte 9. Zu Beginn dieses Kapitels wird uns die dramatische Kehrtwende im Leben des Paulus berichtet: Aus dem fanatischen Christenverfolger wird der entschlossene Christusnachfolger. Und dann lesen wir:
Als Saulus wieder nach Jerusalem kam, versuchte er sich den Jüngern anzuschließen. Aber sie hatten alle Angst vor ihm, weil sie nicht glauben konnten, dass jetzt auch er ein Jünger Jesu war. Da kam ihm Barnabas zu Hilfe. Er brachte ihn zu den Aposteln und berichtete ihnen, wie Saulus auf seiner Reise nach Damaskus den Herrn gesehen und wie der Herr mit ihm gesprochen hatte. Außerdem berichtete er ihnen, wie unerschrocken Saulus dann in Damaskus im Namen Jesu aufgetreten war. Von da an ging Saulus bei den Christen in Jerusalem aus und ein, und auch hier trat er unerschrocken im Namen des Herrn auf. Er unterhielt sich mit den Juden, die aus griechischsprachigen Ländern stammten, und führte lange Streitgespräche mit ihnen. Doch statt sich überzeugen zu las- sen, versuchten sie ihn umzubringen. Als die Christen das erfuhren, brachten sie ihn nach Cäsarea, von wo sie ihn dann nach Tarsus ziehen ließen. (Apg 9,26-30)
„Alle Christen hatten Angst vor Paulus“: eine mehr als nachvollziehbare Reakti- on! Gerade noch war dieser Mann wild entschlossen gewesen, die Gemeinde auszurotten. Männer und Frauen, die an Jesus glaubten, hatte er mit unerbittli- cher Härte verfolgt. Er ließ sie verhaften und ins Gefängnis werfen, und wenn sie dann zum Tod verurteilt wurden, stimmte er ihrer Hinrichtung zu (Apostel- geschichte 9,1.2.13; 22,4.5; 26,9-11). Und jetzt soll plötzlich alles genau an- dersherum sein? Statt Jesus zu verfluchen, tritt er im Namen von Jesus auf? Wenn das mal keine hinterlistige Finte ist, kein doppeltes Spiel! Niemand traute sich, Paulus die Tür zu öffnen.
Niemand? Doch, Barnabas! Barnabas glaubte Paulus. Er glaubte ihm seine spek- takuläre Bekehrungsgeschichte. Er spürte, dass dieser radikale Umschwung echt war. Er ahnte, wozu Gott diesen Mann noch alles gebrauchen konnte. Ihm war klar, dass die Furcht vor Paulus unbegründet war. Und als wieder mal eine Tür, an der Paulus anklopfte, verriegelt blieb, griff er ein: Komm, Paulus, jetzt geh ich mit dir. Mich kennen die Leute, mich kennen die Apostel. Lass mich ihnen deine Geschichte erzählen. Du wirst sehen, das hilft! Und es half. „Von da an ging Saulus bei den Christen in Jerusalem aus und ein.“
Für die ganze weitere Missions- und Gemeindegeschichte ist es von grundlegender Bedeutung, dass Paulus sich mit den Aposteln in Jerusalem verstand, dass zwischen ihnen eine tiefe Übereinstimmung, ein tiefes Vertrauen entstand, das allen künftigen Belastungsproben standhielt. Es durfte keinen Bruch geben zwischen Judenmission und Heidenmission; judenchristliche Gemeinden und Gemeinden von Nichtjuden durften auf keinen Fall in gegensätzliche Richtungen marschieren. Außerdem lernte Paulus durch die Apostel die Worte und Taten von Jesus aus erster Hand kennen und konnte sie später in seine Verkündi- gung einbauen. Indem Barnabas Paulus den Zugang zu den Aposteln vermittelt hat, hat er ihm einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Ohne diesen Dienst hätte das ganze Projekt „Völkermission“ zu scheitern gedroht. Barnabas, der Mentor des Paulus. Barnabas, der Brückenbauer.
Dritter Filmausschnitt: Arbeitsüberlastung und Zweierteam
Dritte Filmszene. Diesmal müssen wir zwei Kapitel vorspulen. In Apostelgeschichte 11 wird erzählt, wie die Christen aus Jerusalem vertrieben wurden und sich – immer weiter von ihrer Heimat entfernt – eine Bleibe suchen mussten. Sie kamen bis nach Phönizien und Zypern und Syrien, und dort, in der syrischen Hauptstadt Antiochia, verkündeten Judenchristen zum ersten Mal das Evangelium nicht nur ihren Landsleuten, sondern auch den nichtjüdischen Einwohnern, und so entstand dort die erste gemischte Gemeinde – jüdische Christen und nichtjüdische Christen feiern miteinander Gottesdienst. Und dann lesen wir fol- gendes:
Von dieser Entwicklung erfuhr auch die Gemeinde in Jerusalem, und Barnabas reiste in ihrem Auftrag nach Antiochia. Als er sah, was dort durch Gottes Gnade geschah, war er glücklich. Er machte allen Mut und forderte sie dazu auf, dem Herrn mit ungeteilter Hingabe treu zu bleiben. Denn er hatte einen edlen Charakter, war mit dem Heiligen Geist erfüllt und hatte einen festen Glauben. Durch seinen Dienst stieg die Zahl derer, die an den Herrn glaubten, ständig an. Schließlich reiste er nach Tarsus, um Saulus zu suchen, und als er ihn gefunden hatte, nahm er ihn mit nach Antiochia. Die beiden waren dann ein ganzes Jahr miteinander in der Gemeinde tätig und unterrichteten viele Menschen im Glauben. (Apg 11,22-26)
„Barnabas machte allen Mut“ – eine wunderbare Zusammenfassung seiner Arbeit, ein wunderbares Spiegelbild seines Namens: „der, der andere ermutigt“. Kein Wunder, dass die Gemeinde in Antiochia so rasant wächst! Sie wächst so schnell, dass die Arbeit Barnabas irgendwann über den Kopf wächst. Wer könn- te mir helfen, überlegt er; wer eignet sich für diese Mischgemeinde? Paulus kommt ihm in den Sinn. Paulus ist einerseits Jude, und andererseits ist er in Kleinasien aufgewachsen, spricht Griechisch und kennt die hellenistische Kultur aus dem Effeff. Paulus wäre der ideale Mitarbeiter!
Wir wissen nicht, was Paulus in Tarsus gemacht hat. Vielleicht hat er sich im Stillen auf seine Aufgaben vorbereitet? Aber jetzt klopft Barnabas an seine Tür: Komm mit nach Antiochia! Lass uns miteinander das Evangelium verkünden und die Christen unterweisen!
Sehen Sie: Wieder erweist er sich als Brückenbauer. Er baut Paulus eine Brücke in die heidenchristliche Arbeit, zu der Jesus ihn ja gerufen hat. Barnabas ist der Ältere, der Erfahrenere, steht schon länger im Glauben. Aber das macht ihn nicht überheblich, lässt ihn nicht denken, er sei unentbehrlich und alles müsse sich um ihn drehen, alle Fäden müssten bei ihm zusammenlaufen. Barnabas hat den Blick für den Jüngeren, für seine besonderen Fähigkeiten, für seinen beson- deren Auftrag. Er hat keine Angst, dass Paulus ihm eines Tages womöglich das Wasser abgraben könnte, ihm überlegen sein würde, mehr Erfolg haben könnte. Barnabas sieht einfach das große Potential, freut sich darüber und ermutigt Pau- lus, davon Gebrauch zu machen. Barnabas, der Mutmacher. Barnabas, der Mentor.
Vierter Filmausschnitt: Rollenwechsel und Charaktergröße
Jetzt die vierte Szene; wieder spulen wir unseren Film zwei Kapitel vorwärts. In Apostelgeschichte 13 befinden wir uns immer noch in der Gemeinde von Antiochia. Aber diesmal heißt es:
13,2Eines Tages, während die Gemeinde dem Herrn mit Gebet und Fasten diente, sagte der Heilige Geist: „Stellt mir Barnabas und Saulus für die Aufgabe frei, zu der ich sie berufen habe!“ Da legte man den beiden nach weiterem Fasten und Beten die Hände auf und ließ sie ziehen. Auf diese Weise vom Heiligen Geist ausgesandt, gingen Barnabas und Saulus nach Seleuzia hinunter und nahmen dort ein Schiff, das nach Zypern fuhr; 5als Helfer hatten sie Johannes dabei ...
Sie durchzogen die ganze Insel, bis sie nach Paphos kamen. Dort begegneten sie einem Juden, der ein Magier und ein falscher Prophet war. Er hieß Barjesus 7und gehörte zum Gefolge von Sergius Paulus, dem Prokonsul der Insel, einem klugen und vernünftigen Mann. Dieser hatte Barnabas und Saulus zu sich eingeladen, weil er sehr daran interessiert war, die Botschaft Gottes zu hören. Doch Barjesus [...] griff die beiden heftig an und versuchte mit allen Mitteln, den Prokonsul vom Glauben abzuhalten. Da blickte ihn Saulus – sein römischer Name ist Paulus – durchdringend an. Vom Heiligen Geist erfüllt, sagte er zu ihm: ...
Paulus und seine Begleiter brachen wieder auf; sie bestiegen ein Schiff und fuhren von Paphos nach Perge in Pamphylien. Dort trennte sich Johannes von Paulus und Barnabas. Während Johannes nach Jerusalem zurückkehrte, zogen die beiden anderen von Perge aus landeinwärts ...
Nun geht’s auf die erste große gemeinsame Missionsreise. Gott selbst ordnet an, dass Barnabas und Paulus sich auf den Weg machen sollen. Das wird der Gemeinde von Antiochia nicht leicht gefallen sein: die beiden besten Pferde im Stall ziehen zu lassen! Aber man gehorcht und lässt sie gehen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist immer noch Barnabas der Anführer. Er wird zuerst genannt; er bestimmt die Reiseroute. Denn dass man als erstes nach Zypern fährt, hat natürlich damit zu tun, dass Barnabas von Zypern stammt; dort kennt er sich aus, dort fühlt er sich zu Hause. Wie gesagt: Zunächst ist Barnabas der Chef des Unternehmens.
Doch dann, auf Zypern, kommt es zum ersten Zusammenstoß mit feindlichen Mächten, zur ersten Herausforderung: Ein Magier und falscher Prophet greift die beiden Apostel frontal an. Und plötzlich verschieben sich die Gewichte. Nicht Barnabas stellt den Magier zur Rede, sondern Paulus. Paulus ergreift die Initiative, wird – ohne dass das vorher abgesprochen war – zum Anführer, auf ganz natürliche Weise. Ich denke, dass Paulus der geborene Leiter war. Er wusste intuitiv, was in so einer Situation zu tun war, wie er agieren und reagieren musste. Und Barnabas erkennt das an, tritt einen Schritt zurück, in die zweite Reihe sozusagen, lässt Paulus den Vorrang.
Lukas, der Autor der Apostelgeschichte, macht das mit einem kleinen, aber wirkungsvollen literarischen Kunstgriff deutlich. Bisher hieß es immer: „Barnabas und Paulus“, in dieser Reihenfolge. Aber jetzt dreht Lukas die Sache um; von diesem Punkt an schreibt er konsequent: „Paulus und Barnabas“, „Paulus und seine Begleiter.“ Bisher war Paulus der Begleiter von Barnabas; mit einem Mal findet sich Barnabas unter den Begleitern von Paulus wieder. Paulus ist sozusagen dort angekommen, wo Jesus ihn hinbeordert hat: an die Spitze des Unternehmens Weltmission. Paulus, der Apostel der nichtjüdischen Völker.
Übrigens wechselt genau an dieser Stelle auch der Name: bisher Saulus, ab jetzt Paulus. Dieser Wechsel hat nichts mit dem Damaskuserlebnis von Paulus zu tun, mit seiner Umkehr „von Saulus zu Paulus“, wie man so sagt. Paulus hatte ganz einfach (wie viele andere, die in zwei verschiedenen Sprach- und Kulturkreisen aufwachsen) zwei Namen. „Saul/Saulus“ war sein jüdisch-aramäischer Name, „Paulus“ sein lateinischer. Auf jüdischem Boden und im Umgang mit Juden nannte er sich Saulus; im griechisch-römisch-hellenistischen Umfeld wurde er Paulus genannt. Wenn Lukas hier diesen zweiten Namen einführt und von da an konsequent beibehält, macht er dem Leser klar, dass Paulus jetzt die führende Rolle in der Missionierung der nichtjüdischen Welt übernimmt. Und Barnabas? Bisher hätte man meinen können, er spiele die Hauptrolle. Jetzt wird klar: Ihm ist eine Nebenrolle zugewiesen. Der Hauptdarsteller ist Paulus.
Auch hier kommt wieder der edle Charakter von Barnabas zum Vorschein. Er könnte ja alles versuchen, um die Zügel in der Hand zu behalten, könnte darauf verweisen, dass er es doch war, der Paulus erst bei den Aposteln in Jerusalem eingeführt und später nach Antiochia geholt hat; ohne ihn stünde Paulus überhaupt nicht da, wo er jetzt steht. Aber nein, Barnabas sieht, dass Paulus eine besondere Vollmacht hat, eine besondere Gabe, das Evangelium anschaulich und logisch klar darzustellen. Er freut sich darüber und überlässt ihm bereitwillig das Feld. Barnabas, der Mentor, der väterliche Freund, der kluge Förderer, der erfahrene Berater. Ein Mentor will nicht selbst groß rauskommen; sein Ziel ist, seinen Zögling groß rauszubringen. Dieses Ziel ist nun erreicht.
Fünfter Filmausschnitt: Kontroversen und Modifikationen
Jetzt spulen wir den Film der Apostelgeschichte ein letztes Mal vor, zum Beginn der 2. Missionsreise, wieder zwei Kapitel weiter, Apostelgeschichte 15 – unsere fünfte und letzte Szene. Leider verlief der Start dieser Reise nicht ganz so rei- bungslos, wie man sich das gewünscht hätte.
15,36Nach einiger Zeit sagte Paulus zu Barnabas: „Lass uns wieder auf- brechen und die Geschwister in all den Städten besuchen, in denen wir die Botschaft des Herrn verkündet haben. Wir müssen doch sehen, wie es ih- nen geht!“ 37Barnabas war damit einverstanden; nur wollte er auch Jo-

hannes mitnehmen – Johannes mit dem Beinamen Markus. 38Doch Paulus hielt es nicht für angebracht, jemand mitzunehmen, der sie auf ihrer vor- herigen Reise in Pamphylien im Stich gelassen hatte, statt mit ihnen weiterzuziehen und den Auftrag zu erfüllen, den Gott ihnen gegeben hatte. 39Darüber kam es zu einer so heftigen Auseinandersetzung, dass sich die beiden trennten. Barnabas nahm Markus mit sich und bestieg ein Schiff, das nach Zypern fuhr. 40Paulus seinerseits wählte sich Silas zum Beglei- ter, und nachdem ihn die Christen von Antiochia dem Herrn und seiner Gnade anvertraut hatten, machte er sich auf die Reise. 41Er zog durch Sy- rien und Zilizien, und überall stärkte er die Gemeinden im Glauben.
Zunächst lässt sich alles prima an. Paulus hat den Wunsch, die neugegründeten Gemeinden zu besuchen, und möchte Barnabas mitnehmen. (Wir merken: Diesmal bestimmt Paulus von vorneherein, wo’s lang geht; Barnabas steht es lediglich frei, zuzustimmen oder abzulehnen.) Nun, Barnabas ist einverstanden, und soweit wäre damit alles geregelt.
Wäre – wenn es da nicht dieses Konfliktpotential in Gestalt des Johannes Mar- kus gäbe. Markus kommt selbstverständlich wieder mit, sagt Barnabas. Markus muss selbstverständlich zu Hause bleiben, sagt Paulus. Ich reise nur, wenn Mar- kus uns begleitet, sagt Barnabas. Und ich reise nur, wenn Markus uns nicht be- gleitet, sagt Paulus. Das Ganze schaukelt sich auf und mündet in eine handfeste Auseinandersetzung. Am Ende trennt man sich; die Positionen sind zu gegen- sätzlich, als dass man vorstellen kann, noch weiter zusammenzuarbeiten. Scha- de, schade.
Warum stellten sich die beiden eigentlich so stur? Warum wollte keiner nachge- ben? Paulus hat ein plausibles Argument: Markus hat uns auf unserer vorherigen Reise im Stich gelassen, ist einfach abgehauen, sobald es schwierig wurde, wie ein Deserteur aus der Armee, wie einer, der nicht wirklich mit ganzem Herzen für Gottes Sache kämpft. Weichei! Versager!, wird er vielleicht geschimpft ha- ben. So einen kann ich nicht brauchen. Mit ihm hätte ich einen Bremsklotz am Bein. Auf meine Mitarbeiter muss ich mich hundertprozentig verlassen können. Was auch immer noch aus Markus werden mag – zum jetzigen Zeitpunkt wäre es höchst unklug, ihn in solch eine verantwortungsvolle Aufgabe einzuspannen.
Und was für Gründe hat Barnabas? Unser Text sagt es nicht direkt, aber man kann es sich unschwer zusammenreimen. Markus war der Vetter von Barnabas (Kolosser 4,10), und Barnabas fühlte sich für ihn verantwortlich. Außerdem war er ja Barnabas, der Mutmacher, der Mentor. Sicher, als es anstrengend und

brenzlig wurde, hat Markus gekniffen. Aber das war einmal. Inzwischen bereut er seinen Rückzieher; er hat dazugelernt, würde sich wahnsinnig freuen, wenn wir ihm noch einmal eine Chance geben. Wir dürfen ihn nicht zurückstoßen, sondern sollten ihn ermutigen. Der junge Mann hat verborgene Qualitäten, und wenn wir ein bisschen geduldig mit ihm sind, wird er uns bestimmt noch viel Freude bereiten.
Eins macht diese Begebenheit klar: Christen müssen nicht immer einer Meinung sein. In einer bestimmten Sache unterschiedliche Positionen zu vertreten ist kei- neswegs unchristlich. Paulus sieht das große Ganze, den Auftrag, möglichst vie- le Menschen zu Jesus zu führen, möglichst viele Gemeinden zu gründen. Er sieht die körperlichen Anstrengungen, die seelische Anspannung, die geistlichen Auseinandersetzungen mit anderen Religionen. Und er hält Markus dafür noch nicht reif genug. Barnabas sieht den Einzelnen, seinen jungen Verwandten, aus dem noch so viel werden kann, wenn er nur die richtige Anleitung bekommt. Er möchte ihn coachen, ihn auf evangelistische Einsätze mitnehmen, bis der Lehr- ling eines Tages vielleicht die Gesellenprüfung ablegt. Und wer weiß, vielleicht macht Gott sogar einen Meister seines Fachs aus ihm?!
Beide Standpunkte sind gut begründet. Beide Apostel haben auf ihre Weise recht. Und eigentlich ist es auch gar nicht schlimm, dass sich ihre Wege trennen. So kann jeder genau das tun, was ihm am Herzen liegt. Und statt einem Missi- onsteam gibt es nun zwei! Schade nur, dass diese Trennung offensichtlich ge- räuschvoller vor sich ging, als es nötig gewesen wäre. Es spricht für die Ehrlich- keit von Lukas, dass er diesen Streit nicht verschweigt. Es spricht für die Wahr- heit der Bibel, dass sie die Christen nicht als makellose Heilige hinstellt, nicht einmal einen Barnabas, nicht einmal einen Paulus.
Gleichzeitig fällt aber auch auf, dass Lukas keine Schuldzuweisung vornimmt. Er schlägt sich nicht auf die eine oder andere Seite, sondern berichtet bewusst neutral. Wenn wirklich Schuld mit im Spiel war, verletzende Worte, Ungeduld, fehlendes Verständnis für das Anliegen des anderen, dann darf man annehmen, dass das über kurz oder lang bereinigt wurde. Wissen Sie, woraus ich das schließe? Erstens daraus, dass Silas bereit war, mit Paulus loszuziehen. Wenn Silas der Meinung gewesen wäre, dass Paulus sich massiv versündigt hätte und keine Bereitschaft zeigte, das zu korrigieren – er hätte erst einmal auf einer Klä- rung und Aussöhnung bestanden. Wie hätte sonst eine unbelastete und erfolg- versprechende Zusammenarbeit entstehen können? Und zweitens schließe ich es daraus, dass es heißt: „Nachdem die Christen von Antiochia Paulus dem Herrn

und seiner Gnade anvertraut hatten, machte er sich auf die Reise ... und überall stärkte er die Gemeinden im Glauben.“ Hätte Paulus voll Ärger und Zorn die Reise antreten wollen, hätte er einen Groll auf Barnabas gehegt, dann hätten ihn die Mitchristen nicht mit dem Segen Gottes ziehen lassen. Dann hätten sie ihn als erstes aufgefordert, reinen Tisch zu machen. Und Paulus wäre auch nicht im- stande gewesen, die Gemeinden im Glauben zu stärken. Wenn er bewusst eine Bitterkeit, eine Unversöhnlichkeit mit sich geschleppt hätte, wäre seine Missi- onstätigkeit niemals so erfolgreich gewesen, wie sie es dann tatsächlich war. Im Film der Apostelgeschichte ist Paulus spätestens ab der zweiten Missionsreise endgültig der Hauptdarsteller.
Und Barnabas? Was wird aus Barnabas? Keine Ahnung. Er wird in der Apostel- geschichte kein einziges Mal mehr erwähnt. Barnabas verschwindet in der Ver- senkung; die Nebenrolle hat ausgedient. Aha, könnte man denken, das hat er nun von dem Streit und von seiner Entscheidung für Markus und gegen Paulus. Da- mit hat er sich selbst außer Gefecht gesetzt. Von jetzt an spielt er keine Rolle mehr in der Geschichte der ersten Christen, nicht einmal eine Nebenrolle.
Der Streit hat nicht das letzte Wort!
a) 5 Jahre später: Freundschaft
Da wäre ich mir nicht so sicher. Der Zusammenstoß von Paulus und Barnabas ereignete sich ungefähr im Jahr 50. Etwa 5 Jahre später schreibt Paulus den 1. Korintherbrief. Darin lesen wir folgendes: „Hätten Barnabas und ich nicht das Recht, uns für unsere Arbeit von der Gemeinde mit Essen und Trinken versor- gen zu lassen?“ (1. Korinther 9,6). Paulus erwähnt Barnabas ganz selbstver- ständlich als einen, der auf derselben Stufe steht wie er und der wie er für das Evangelium arbeitet. Das klingt nicht nach Zerwürfnis; das klingt viel eher so, als sei der Streit ausgeräumt.
b) 10 Jahre später: Wertschätzung
Aber es kommt noch besser. Weitere 5 Jahre später befindet Paulus sich in römi- scher Gefangenschaft und schreibt von dort aus den Kolosserbrief und den Philemonbrief. In Kolosser 4,10 lesen wir: „Aristarch, mein Mitgefangener, und Markus, der Vetter von Barnabas, lassen euch grüßen. Was Markus betrifft, habt ihr ja bereits Anweisungen erhalten; wenn er zu euch kommt, heißt ihn herzlich willkommen.“ Und in Philemon 24 steht: „Meine Mitarbeiter Markus, Aristarch, Demas und Lukas senden dir ebenfalls Grüße.“
Markus befindet sich also bei Paulus – vielleicht nicht wie er in Haft, aber doch ganz in der Nähe. Paulus schickt ihn nach Kolossä und möchte, dass die Chris- ten dort ihn herzlich willkommen heißen. Was folgt daraus? Paulus hat sich nicht nur mit Barnabas ausgesöhnt; er steht auch mit Markus wieder auf gutem Fuß. Wegen Markus hat er sich ja damals von Barnabas getrennt; er wollte Mar- kus nicht wieder auf eine Missionsreise mitnehmen. Aber jetzt ist Markus bei ihm, und offensichtlich verstehen die beiden sich gut, Paulus schätzt Markus, ja, er bezeichnet ihn als seinen Mitarbeiter!
c) 18 Jahre später: Zusammenarbeit
Und es kommt noch besser. Noch einmal 7 oder 8 Jahre später schreibt Paulus den 2. Timotheusbrief. Es ist sein letzter Brief; Paulus sitzt im Gefängnis und weiß, dass er demnächst auf Befehl des römischen Kaisers hingerichtet wird. Und was lesen wir dort? „Bring, wenn du kommst, Markus mit; er wäre mir bei dem Dienst, den ich hier zu erfüllen habe, eine große Hilfe.“ (2. Timotheus 4,11)
Diesmal ist Markus nicht bei Paulus, aber er möchte ihn unbedingt bei sich ha- ben! Markus wäre ihm eine große Hilfe, und zwar nicht nur, um ihm in seiner Einsamkeit und in seinen letzten Stunden ein bisschen Gesellschaft zu leisten, nein: „Er wäre mir eine große Hilfe bei dem Dienst, den ich hier zu erfüllen ha- be.“ Paulus hat seinen Auftrag bis zum Schluss nicht vergessen und nicht ver- nachlässigt: Missionar und Evangelist zu sein, für Jesus zu werben, sogar am Hof des Kaisers, sogar in seiner Todeszelle, sogar den Soldaten gegenüber, die ihn hinrichten werden. Und er stellt sich vor, wie gut Markus ihm dabei helfen könnte!
Das ist jetzt wirklich das glatte Gegenteil von damals. Damals, bei dem großen Streit, wollte Paulus Markus partout nicht mitnehmen. Lieber verzichtete er auf die bewährte Zusammenarbeit mit Barnabas. Was hatte ihn an Markus gestört? Seine krumme Nase? Sein jugendliches Kichern? Ach was! Ihn hatte gestört, dass Markus nicht bereit gewesen war, den missionarischen Auftrag zu erfüllen, den Gott ihnen gegeben hatte. Aber jetzt – jetzt will er ihn genau für diesen Auf- trag bei sich haben! Also muss sich bei Markus ganz massiv etwas geändert ha- ben. Markus war mutig geworden, zuverlässig, beharrlich, charakterfest. Er hatte sich bewährt, und Paulus hat davon erfahren und hat die Veränderung anerkannt.
Übrigens hat auch Petrus Markus als besonders wertvoll schätzen gelernt. In seinem ersten Brief schreibt er: „Es grüßt euch mein Sohn Markus.“ (1. Petrus
5,13) Markus stand ihm so nahe wie ein Sohn; er hatte ihn so lieb wie ein eige- nes Kind!
Jeder hat sein Meisterstück abgeliefert
Das alles spricht für Markus: Er hatte dazugelernt. Es spricht auch für Paulus: Er war kein Sturkopf – einmal abgelehnt, immer abgelehnt. Nein, ein Markus, der dazugelernt hatte, war in seinem Team jederzeit willkommen. Vor allem aber spricht das für – ja, für wen? Für Barnabas! Barnabas hatte an Markus geglaubt, hatte ihn nicht aufgegeben. Barnabas hatte ein Zweierteam mit ihm gebildet, war in Zypern erneut auf Evangelisationstour mit ihm gegangen, hatte ihn geschult, ihm neue Gelegenheiten gegeben, sich zu bewähren. Und Markus hat die Chan- ce beim Schopf gepackt. Er gewann seine Selbstachtung zurück. Durch sein Verhalten hat er das in ihn gesetzte Vertrauen gerechtfertigt. Die Gesellenprü- fung hatte er längst bestanden. Er war ein tüchtiger Mitarbeiter der Apostel ge- worden. Ja, er hatte sogar den Meisterbrief in der Tasche. Sein Meisterstück war das Markus-Evangelium. Ausgerechnet Markus traute sich an die Aufgabe, die Worte und Taten von Jesus, sein Leben und Leiden in einem Buch darzustellen!
Markus konnte sich glücklich schätzen, dass er solch einen Freund wie Barnabas hatte! Was war das für ein Mentor! Was war das für ein Mutmacher! Barnabas selbst verschwindet sozusagen von der Bildfläche; dafür kommen die groß raus, die er betreut. Solche Leute braucht es. Solche Leute gibt es. Sie stehen viel- leicht nicht unbedingt im Rampenlicht, aber Gott kann viele durch sie segnen. Ihr Dienst besteht in einer Nebenrolle oder geschieht vielleicht sogar völlig hin- ter der Bühne. Und trotzdem sind sie unentbehrlich. Ohne Barnabas hätten wir – menschlich gesprochen – Paulus und die Paulus-Briefe nicht. Ohne Barnabas hätten wir Markus und das Markus-Evangelium nicht. Barnabas stellte die Wei- chen, Barnabas gab die Initialzündung. Barnabas holte die richtigen Leute an Bord. Barnabas kümmerte sich ganz individuell und ganz persönlich um Sor- genkinder. Barnabas war einer, der seinem Übernamen gerecht wurde. Barna- bas, der Mutmacher und Mentor.
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